Das Bemerkenswerte an den bildnerischen Konzepten von Susanne Neiss ist ihr offener Charakter. Unser Blick auf sie kann nur einer Vermutung folgen. Man kann versuchen, sie in einem erzählerischen Zusammenhang zu lesen. Aber es bleibt immer ein unerklärlicher Rest. Deshalb ist es keinesfalls zwingend, eine logische Beziehung zwischen den bildnerischen Einheiten herzustellen. Es ist nicht notwendig, etwas Objektives feststellen zu wollen. Von viel größerer Bedeutung ist das, was sich im Zuge der Betrachtung fühlen lässt.
Wenn zwei Menschen ein Bild anschauen, die Darstellung eines Gegenstandes beispielsweise, dann sieht der eine oftmals einen völlig anderen Gegenstand als der andere. Und beider Erkenntnis differiert meistens gegenüber dem, was tatsächlich dargestellt ist. Oftmals stimmt aber zwischen den Betrachtenden das Gefühl überein, welches sich im Zuge der Betrachtung herstellt. Auch in Bezug auf das, was genau auf den Bildern von Susanne Neiss zu sehen ist, unterscheiden sich die Meinungen. übereinstimmung herrscht aber hinsichtlich der Erkenntnis, dass es insbesondere die Sinnlichkeit ihrer Bilder ist, mit der die Künstlerin uns zu faszinieren vermag, der Bildklang und die schemenhaften Andeutungen, die unser Interesse wecken. Oft hängt ein Bild mit einem anderen zusammen oder wird durch ein zweites, drittes fortgeführt. Deshalb meint das Publikum, einer Narration folgen zu können und landet doch Schritt für Schritt im Unabgeschlossenen.
In ihren Projekten verleiht Susanne Neiss den bildnerischen Bögen und farblichen Klimata die Struktur einer Erinnerung aus ihrer Einbildungskraft. Die Dissonanz, die sich aus dem zusammensetzt, was erzählt und was nicht erzählt werden kann, offenbart sich schlussendlich als Geheimnis der Harmonie.
Susanne Neiss operiert an der Schnittstelle zwischen Fotografie und Malerei. Ihr strukturelles Denken ist auf das collagehafte Zusammensetzen von Bruchstücken gerichtet. Wie einer Architektin von Psychoräumen gelingt es ihr, Bilder von Gewesenem mit dem Ausblick auf etwas, das noch nicht stattgefunden hat, zu verschwistern. Auf bodenlos Abgrundhaftes folgt Lichtmalerisches. Die Künstlerin fertigt Landschaftsbilder der Seele, die anrühren. Solch ein Kopfkino in der bildenden Kunst ist selten. Hier werden uns Zustände im übergang präsentiert. So weich diese Werke das Nichtverweilen des glücklichen Augenblicks in einen farblichen Verwandlungsfluss kleiden, so präsent werden meditative Erfahrungen, wenn der Betrachter sich ihnen hingibt. Schon ein Blick auf die Titelgebung der fotografischen Serien erweist sich als aufschlussreich. Zu den wichtigsten Projekten zählen: „sometimes” (2006), „Alice” (2007), „redrum„ (2010), „lost„ (2010), „SpielEnde” (2010), „screen” (2010), „ysland” (2013), „tabu” (2015) und „blow” (2015). Verlorenheit und Geheimnis bedingen einander. Magie und Dynamik halten sich die Waage. Dieser Doppelblick schlägt sich narrativ nieder in einer gelungenen Verbindung von existentiellen, nach innen gewandten Fragestellungen und einem lebendigen, unsentimentalen Technik- und Materialeinsatz.
Susanne Neiss hat jahrelang analog gearbeitet, seit 2015 (mit Beginn der Arbeit an „blow”) nutzt sie auch digitale Möglichkeiten der Bildbearbeitung. Früher hat sie Diafilme und verglaste Dias bemalt, heute erfolgt das übereinanderlegen der Bildebenen am Computer.
Das, was in ihrem Bildbau im weitesten Sinne als szenisch ausgemacht werden kann, ist im Wesentlichen nicht arrangiert. Scheinbar austarierte Systeme rutschen immer leicht aus dem Gleichgewicht. Das wirkt verunsichernd und betörend zugleich.
Wer sich in die serielle Präsentation des kompletten Bildkosmos′ von Susanne Neiss hineinziehen lässt (entweder suggestiv an der Wand ausgebreitet oder als Künstlerbuch zum Durchblättern), der bekommt Zugang zu einer komplexen Erlebnisschleife der ungewöhnlichen Art.
Christoph Tannert, künstlerischer Leiter, Künstlerhaus Bethanien, Berlin