Dr. Martin Stather: True Stories

Ausstellungsleiter des Mannheimer Kunstvereins

Manchmal haben wir es satt. Dann gehen wir raus, legen uns ins Gras, pfeifen auf einem Löwenzahnstengel und alle können uns mal. Bilder ziehen am inneren Auge vorbei wie Wolken am Himmel, Erinnerungen und Wünsche, manchmal auch Ausblicke auf das, was sein könnte. Zusammenhanglos und doch nicht wirklich wahllos.

Auslöser
Susanne Neiß nennt einen Fotoapparat ihr eigen. Und mit dem macht sie Fotografien, die keinen Anspruch darauf erheben, die Wirklichkeit in verbindlicher Art und Weise abzubilden. Atmosphärisch dicht sind diese Arbeiten, die oft wie Zufallstreffer wirken, meist eher malerisch als von fotografischer Schärfe bestimmt sind. (...) Das Ausschnitthafte, Schnappschussartige, offenbar neben das Motiv geknipste Bild interessiert sie. Solche Bilder haben nämlich eine geradlinige Verbindung zum Gedachten, Geträumten, Sprunghaften der Erinnerung, der wir alle besser nicht trauen sollten und der wir doch mehr oder weniger ausgeliefert sind. Dadurch bekommen ihre Fotografien etwas Intimes, etwas, was uns nahe kommt, was auf unseren eigenen Erfahrungen basiert, was Assoziationen auslöst und uns eine Geschichte zu den Bildern dazuerfinden lässt.

Nähe
„Intimacy” nennt Susanne Neiss eine ihrer fotografischen Serien. Eigentlich arbeitet sie immer in Serien, besser: Sequenzen, Ausschnitten aus einer möglichen Geschichte, die sie in Bruchstücken dem Betrachter anbietet, nicht ohne eine eigene Geschichte dazu zu haben, die sie jedoch für sich behält. Die Titel geben allerdings kleine Hinweise. „Intimacy” also, beispielsweise, zeigt Blicke aus dem halb geschlossenen Auge auf etwas, das man nicht auf den ersten Blick identifizieren kann. Der Blick schweift aus nächster Nähe über Kies und Grasbüschel hin zu einem Frotteehandtuch, das im Gras liegt. Was ein voyeuristischer Blick sein könnte, ist jedoch keiner, eher ein zunächst absichtsloses Aufnehmen dessen, was da ist. Natürlich ist da eine latente Spannung, gerade durch die Nähe des Blickes, die alles ignoriert, was direkt daneben liegt. Unwillkürlich fühlt man sich an Krimiszenen kurz vor Entdecken der Leiche erinnert, oder, für Filmfreaks, an Antonionis „Blow up”. Anders als dort ist hier aber keine Geschichte konstruiert. Man könnte eine konstruieren, muss es aber nicht. Erst die Farbigkeit bildet, abseits des Motivs natürlich, um das die Sequenz kreist, ein Bindeglied, das eine emotionale Aufladung bewirkt. Das Rot des Augenlids bringt einerseits ein Element der Wärme ins Bild, setzt aber auch die Phantasie des Betrachters durch die partielle Verdeckung des Gezeigten in Gang.

„sommer” Spiegelung
Anders bei „Alice”. Hier werden ganz unterschiedliche Ansichten in Folge kombiniert, die auf den ersten Blick gar nichts miteinander zu tun haben. Erst die Kombination der Motive schafft einen wie auch immer gearteten Zusammenhang; ein Waldstück, das gefrorene Wasser eines Brunnens, ein Sonnenstrahl auf einer Lichtung, die Spiegelung eines Hauses, ein Interieur, usw. Die Verbindung des Titels mit den wiederkehrenden Spiegelungen verweist den Betrachter, wenn er mag, auf Lewis Carrolls „Through the looking glass”. Susanne Neiß beschreitet mit ihren Fotografien Wege, die von der klassischen Fotografie wegführen und Neuland betreten, das die Fotografie in die Nähe der Malerei rückt. über 150 Jahre waren wir es gewohnt, daß die Fotografie Wirklichkeit abbildet, auch wenn diese Annahme sicherlich nur partiell zutreffend war. Neiß'sequentielle Impressionen verdichten das Bild hin auf seine emotionalen Qualitäten und gestehen dem Einzelbild nur einen Platz als Teil des Ganzen zu. Allein können diese Fotografien zwar für sich stehen, verlieren jedoch einen Zusammenhang, der ihnen erst Gewicht verleiht. Eigentlich werden die Erwartungen, die der Betrachter mit der Fotografie verbindet, auf diesen selbst zurückgespiegelt - manchmal sogar auf den Kopf gestellt. Damit erhält das Foto eine neue Dimension als Gedankenbild, das eine gewisse Authentizität besitzt, aber ebenso wie Erinnerungen und Gedanken schwer fassbar ist. Es bewegt sich von der Fotografin hin zum Betrachter und zurück und kann dabei Struktur und Inhalt verändern. Darin liegt vielleicht die Stärke dieser Arbeiten, die Anstösse geben, ohne etwas fixieren zu wollen. Für die Fotografie bedeutet das einen reset, der einen neuen Start in ein neues visuelles Abenteuer darstellt.