Fotografien/sommer

von Dr. Barbara Willert (Museums Ritter)

Bei Susanne Neiß' Fotografien der letzten Jahre handelt es sich um großformatige Fotohandabzüge auf Alucobont. Sie sind ganz überwiegend in Analogtechnik entstanden. Der Betrachter erfährt diese Arbeiten unmittelbar als sinnliches Erlebnis von hohem ästhetischem Reiz. Leuchtende, oft bonbonbunte Farben, flimmerndes Licht und immer wieder starke Lichtreflexe bestimmten ganz den ersten Bildeindruck. Die oft unscharfen, partiell stark verwischten Konturen von Abgebildetem sowie Spiegelungen von Licht und Umgebung verleihen den Fotografien einen diffusen, unfasslichen Charakter, der an Traumbilder erinnert. Diesen Effekt erzielt die Künstlerin ganz ohne nachträgliche Veränderungen beispielsweise der Farbe. Auch findet eine Manipulation der vor Ort vorgefundenen Lichtverhältnisse, etwa durch eine zusätzliche Ausleuchtung mit Kunstlicht, nicht statt. Susanne Neiß hält in ihren Arbeiten also tatsächlich Gesehenes fest, genauer gesagt eine von den momentanen Einwirkungen des Lichts und von den Materialeigenschaften des Motivs bestimmte Ansicht.

Wie aber kommt es nun, dass wir uns diese Fotografien erst ergründen müssen, dass wir das, was dargestellt ist, oft nur erahnen und uns eine Identifikation des Motivs nur vage oder auch gar nicht gelingt? Dies hat mehrere Gründe: Zunächst einmal geht es der Künstlerin gar nicht um einen möglichen Wiedererkennungseffekt. Statt vertraute Sehgewohnheiten zu bedienen, rückt sie in ihren Arbeiten scheinbar belanglose Details in den Blickpunkt und gibt ungewohnte Impressionen von Gegenständen und Orten wieder. So zum Beispiel in einer 1999 auf Sardinen entstandenen vierteiligen Arbeit („Fotografien”/Serie 13). Die Fotografien dieser Serie zeigen den Blick durch das Fenster einer Campingplatztoilette auf eine gegenüberliegende Holzhütte. Ein Licht- und Sichtschutz aus roten Plastikstreifen verunklärt hier die Aussicht und legt sich wie ein verschleiernder Nebel über die abgelichtete Außenwelt.

Das in diesen Bildern behandelte Thema der Schnittstelle und des Zusammenspiels von Innen- und Außenraum findet sich oft bei Susanne Neiß und ist auch kennzeichnend für eine Reihe von Fotografien, die während eines längeren Arbeitsaufenthalts in Barcelona („Fotografien”/2, 3, 4, 5, 9a, 11, 14) entstanden sind. Die Barcelona-Arbeiten bestechen zunächst durch ihre schillernde Farbigkeit. In einer dieser Aufnahmen (4) erkennt der Betrachter sodann diverse Pflanzen, Palmen und Laubbäume, und er erhält den Eindruck einer traumhaften, surreal wirkenden Komposition aus sich überlagernden semitransparenten Farb- und Bildschichten. Tatsächlich aber ist hier der Blick von außen durch eine Glasscheibe in ein Gewächshaus festgehalten. Die Reflexionen von Licht und Umgebung auf der Glasscheibe führen zu einem irritierenden Bildeindruck, der eine Überschneidung von Innen- und Außenraum vortäuscht. Einen ähnlichen Effekt erzielt die Künstlerin in einer Fotografie, die in extremer Nahsicht den Blick auf spiegelnde, türkisfarbene Kacheln zeigt (2). Der Faktor Licht und ein dadurch bestimmtes Farbenspiel sind hier die entscheidenden bildkonstituierenden Komponenten.

In zwei anderen Arbeiten von Susannen Neiß überziehen flackernde Lichtstreifen sogar die gesamten Bildflächen (9). Gegenständliches tritt hier ganz zugunsten einer abstrakten Bildwirkung in den Hintergrund. Beide Fotografien thematisieren Licht, das durch die Schlitze eines heruntergelassenen Rolladens beziehungsweise durch die eines von unten betrachteten Baugerüsts einfällt. Den Effekt der Sichtbarmachung real da gewesener Lichtspuren erzielt die Künstlerin durch eine minimal längere Belichtung der Aufnahmen.

Die neunteilige Serie „sommer - l'été -miramas” ist unmittelbar vor und vor allem während eines Aufenthalts in Südfrankreich entstanden, wohin Susanne Neiß im Sommer 2003 reiste, um eine Ausstellung vorzubereiten. Eigentlich war es nicht ihre Absicht, dort zu fotografieren; doch haben sie vor Ort zufällig vorgefundene Motive und Eindrücke spontan zu mehreren Arbeiten inspiriert. Bei diesen Fotografien handelt es sich freilich nicht um herkömmliche Reiseimpressionen im Sinne einer Ablichtung von ortstypischen Themen. Vielmehr richtet Susanne Neiß ihren Blick auch in dieser Serie auf scheinbar Belangloses. Statt standardisierte Wahrnehmungsprozesse zu bedienen, zeigt sie eine sehr eigenwillige und persönliche Sicht der Welt. Und wieder waren es vornehmlich ungewohnte, starke Lichteffekte, die sie faszinierten und zu Bildern von hoher malerischer Wirkung führten.

Dies trifft etwa auf eine grünlich leuchtende Fotografie („sommer”/8) zu, in der die Künstlerin eine metallisch beschichtete und daher reflektierende Sonnenschutzblende für die Windschutzscheibe eines Autos festgehalten hat. Die Perspektive und der gewählte Bildausschnitt lassen eine Identifikation des Motivs kaum zu und wecken eher Assoziationen an gläsern Architektonisches. Rätselhaft erscheint zunächst auch ein von weißen und blaustichigen Lichtpunkten übersätes Bild („sommer”/7). Es zeigt achtlos in einem Zaun verfangenes Lametta, möglicherweise ein Relikt des letzten Weihnachtsfests.

Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass die Fotografien der Miramas-Serie ganz überwiegend im Freien und an hellen Sonnentagen entstanden sind. Doch glaubt der Betrachter mitunter die oft bunt leuchtenden Motive im Bildvordergrund vor einem scheinbar dunklen Nachthimmel zu sehen, der so gar nicht lichtdurchflutet und sommerlich erscheint. Diese irritierende Wirkung erzielt die Künstlerin, indem sie halb gegen das Licht fotografiert und Lichtreflexe mit der Kamera ausgleicht. Zudem unterwandern oft verwischte Konturen der im Vordergrund befindlichen Gegenstände die gewohnte Wahrnehmung der Wirklichkeit. Das Nahe erscheint somit unklar, während der Hintergrund an Schärfe gewinnt.

Dieser gängigen Sehgewohnheiten widersprechende Effekt lässt sich etwa in Susanne Neiß' Fotografie („sommer”/1) einer Reihe bunter Wäscheklammern vor einer grünen Gartenwiese nachvollziehen. Fototechnisch gesehen ist die Unschärfe der Wäscheklammern im Bildvordergrund das Ergebnis einer extremen Nahsicht, die an eine Fokussierung auf motivisch eigentlich unwichtigere Bildelemente gekoppelt wurde. Sowohl in dieser Arbeit als auch in der Fotografie eines rosaroten Wasserspielballs („sommer”/3) gilt das Interesse der Künstlerin vornehmlich dem Leuchteffekt, der sich aus der Einwirkung des Lichts auf transluzide Materialien ergibt. Licht und Lichteinfall verleihen dem Wasserball aus Plastik eine artifiziell wirkende Leuchtkraft und lassen ihn als befremdliches Traumgebilde erscheinen, das in seiner süßlich bunten Farbigkeit und runden Glätte auf eine heile Barbie-Welt verweist.

Susanne Neiß beweist in ihren Fotografien eine extrem sensible und subjektive Wahrnehmung ihres Umfelds. Sie zeigt, wie das Licht die Welt und ihre Gegenstände verändert, wie wenig verlässlich unsere Vorstellungen von Nah und Fern sind und wie Wirkliches Unwirklich erscheinen kann. Zusätzlich wird die Realität in den Arbeiten der Künstlerin häufig durch die Wahl des Bildausschnitts und eine extreme Vergrößerung des vorgefundenen Motivs verfremdet. In ihren Fotografien spricht sich Susanne Neiß gegen eine einzig gültige, objektive Wirklichkeit aus. Statt dessen macht sie deutlich, wie Welt und Scheinwelt ineinander greifen und wie nahe Täuschung und Realität beieinander liegen können.