Alice
von K. H.
In der Serie „Alice” stellt Susanne Neiß zehn Fotografien, die zwischen 1996 und 2005 an den unterschiedlichsten Orten entstanden, zu einer narrativen Sequenz zusammen. Ähnlich wie in einem aus Stills bestehenden Filmskript wird der Betrachter hier an eine komplexe Geschichte herangeführt, die er jedoch erst entschlüsseln muss.
Helle, lichtdurchströmte Aufnahmen wechseln sich in der Fotoserie mit dunklen, in diffuses Licht getauchten und gespenstisch wirkenden Aufnahmen ab. Mal ergießen sich satte, laute Farbtöne auf den Bildern, die den Betrachter in einen regelrechten Farbenrausch versetzen, mal sind es eher zarte, leise Pastellfarben, die den Tonwert der Bilder bestimmen. In den eigentlichen Bildzentren und darüber hinaus tauchen oft Unschärfen auf, die von vereinzelten scharfen Partien unterbrochen werden. Hier scheinen Momente der Bewegung unmittelbar auf Momente des abrupten Stillstands zu stoßen. Manchmal vermischen sich mehrere räumliche Bildebenen ineinander, die die Fotografien in einen surrealen Kontext stellen. Geisterhafte Gestalten scheinen sich in den Bildern zu materialisieren und sind doch nichts anderes als zufällige Lichtreflexe.
Ihren künstlerischen Fokus richtet Susanne Neiß auf das Unerwartete und Ungewisse. Sie spürt Ansichten auf, die an den meisten von uns im Alltag bedeutungslos vorüberziehen oder gar nicht erst auffallen. Die konträren, malerisch wirkenden Farbakzentuierungen, die gekonnte Vermischung von unscharfen und scharfen Bildpartien sowie die surreale Verknüpfung mehrerer Bildebenen lassen die Fotografien wie eingefangene Traumsequenzen wirken. Sie sind dabei oft mehr als nur Belege des eigentlich Sichtbaren. Der Blick unter die Oberfläche, die Spannung zwischen einem Innen und Außen sind bedeutende Themen für die Künstlerin, und sie sind das zentrale Kennzeichen ihrer Arbeiten: Sie decken die absurden und grotesken Ansichten scheinbarer Idyllen auf und führen den Betrachter in eine verwirrende Welt, die allen Naturgesetzen zu trotzen scheint.
Susanne Neiß arbeitet mit einer analogen Kamera. Die zumeist surrealen Eindrücke, die sich dabei herausbilden, werden nicht durch die Verwendung von Farbfiltern oder Doppelbelichtungen erzeugt sondern sie entstehen unmittelbar und unverfälscht, und lediglich unter zu Hilfenahme der gewöhnlichen Funktionen einer analogen Spiegelreflexkamera. Das Fotografieren in spiegelnde Oberflächen sorgt für den Effekt mehrerer ineinander übergehender Bildebenen. Der visuelle Reiz liegt darin, dass es nahezu unmöglich ist, die Grenzen zwischen diesen reflektierenden Oberflächen und dem, was sich in ihnen spiegelt zu erfassen. Auch die digitale Nachbearbeitung oder nachträgliche Verfremdung und Veränderung - etwa von Tiefenschärfe und Farbtonwerten durch den Computer - kommen für Susanne Neiß nicht in Frage. Die aufgenommenen Situationen sind auch nicht inszeniert sondern wurden so wie sie von der Künstlerin fotografisch festgehalten wurden, von ihr vorgefunden.
Wie der Titel der Fotoserie „Alice” bereits vermuten lässt, hat sich Susanne Neiß von Lewis Carrolls Märchen „Alice im Wunderland” und „Alice hinter den Spiegeln” zu der Zusammenstellung der zehn Fotografien inspirieren lassen. Es entstand eine fotografische Interpretation der Märchen, die die Künstlerin zu einer modernen zeitgenössischen Sequenz zusammenfügte. Dabei geht es Susanne Neiß weniger um die Umsetzung der eigentlichen Geschichte, in der ein kleines Mädchen Kraft seiner Fantasie in eine Traumwelt hinter einem Spiegel, der im häuslichen Wohnzimmer hängt, eindringt, sondern mehr um das eigentliche Thema der Märchen von Lewis Carroll: Die Ordnung von Zeit und Raum ist außer Kraft gesetzt, Vergangenheit und Gegenwart vermischen sich, und eine absurde Logik übernimmt die Macht, die die Identität der Individuen und Dinge sowie ihre existentielle Berechtigung an sich in Frage stellt.
Formal führt Susanne Neiß den Betrachter zunächst durch einen
menschenleeren, in diesiges Licht getauchten Nadelwald (Foto Nr. 1). Die
Unschärfe der Konturen der hohen und kahlen Bäume, die lediglich durch die
scharfen Konturen einzelner Stämme in der rechten Bildhälfte unterbrochen
wird, lässt den Blick unruhig über das Bild schwenken.
Als nächstes taucht ein glänzender Eisberg auf (Foto Nr. 2), der an seinen
luziden Stellen türkis schimmert und sich optisch von einem stahlblauen
Himmel absetzt. Er erinnert an einen Ausschnitt des Gemäldes „Eismeer” des
Romantikers Casper David Friedrich. Die Frage nach der wahren Größe des
Eisbergs und damit zugleich auch die Fragen nach der eigenen Größe und
Gewichtigkeit kommen hier auf. Hier fühlt man sich daran erinnert, wie Lewis
Carroll in seinem Märchen Alice einen Zauberpilz finden lässt, der sie, je
nach dem von welcher Seite sie einen Bissen nimmt, schrumpfen oder zu einer
riesenhaften Statur hoch wachsen lässt.
An einer Waldlichtung (Foto Nr. 3) kommt der Blick kurz zur Ruhe: Unter den
ausladenden €sten einer Blautanne konzentriert sich das Licht in einem hell
flirrenden Punkt auf einer Wiese aus sattem, fast unnatürlichem Grün. Doch
kann man dieser behaglichen Idylle trauen? Oder verbirgt sich ein dunkles
Geheimnis hinter ihr?
Schon auf dem nächsten Foto (Nr. 4) beginnt die Idylle zu zerfasern. Susanne
Neiß fotografierte hier die Spiegelung eines Hauses auf einem Hinweisschild,
auf dem zwei Vögel abgebildet sind. Die beiden sichtbaren Ebenen beginnen
sich vor den Augen des Betrachters zu vermischen und er stößt an die Grenze
zwischen zwei Realitäten. Er sieht den verbildlichten Spiegel aus dem
Märchen, der die Membran zwischen zwei konträren Welten bildet. Beim
Durchqueren dieser Membran bewegt er sich vom Außen der einen Welt ins Innen
der anderen Welt.
Im Inneren der Spiegelwelt angekommen, zeigt uns die Künstlerin zunächst die
verschwommene Ansicht eines Wohnzimmers (Foto Nr. 5), das sich in dem Haus
aus dem vorangegangenen Foto befinden könnte. Sie hat hier die Spiegelung
des Zimmers in einem Fernsehbildschirm fotografiert. Unschärfe verwischt die
Konturen des Interieurs und die düstere Atmosphäre vermittelt dem Betrachter
ein beklemmendes Gefühl. In der linken oberen Bildecke ist ein Fenster zu
sehen, durch das Licht in das Zimmer fällt. Von einer partiell erleuchteten
gelben Gardine aus bewegt sich der Lichteinfall diagonal nach rechts unten.
Er streift einen Lampenschirm und trifft dann auf die Armlehne und Teile der
Sitz- und Rückenfläche eines Sofas, das ansonsten in der Dunkelheit des
Raums verschwindet. Plötzlich sieht man in der Ecke des Sofas ein
gespenstisches Wesen mit angezogenen Beinen sitzen, dessen Kopf nur aus
Licht zu bestehen scheint. Formal betrachtet vermischt sich die reale
Ansicht eines Wohnzimmers mit den Lichtreflexen auf der spiegelnden
Oberfläche des Fernsehschirms.
Es ist wieder hell und der Betrachter findet sich unter einem Tischchen
hockend wieder (Foto Nr. 6). Er erblickt die übereinander geschlagenen,
makellosen nackten Beine einer Frau. Der Rest des Köpers ist nicht zu sehen.
Die Künstlerin führt hier ein erotisches Moment ein und lässt den Betrachter
zum Voyeur werden, der sich unter der Anrichte versteckt hält. Auch hier
sorgt die Frage nach der eigenen Größe für Verwirrung. Ist man ganz klein
oder normal groß? Befinden wir uns immer noch im eben noch so düsteren
Wohnzimmer? Und die Frage nach der Identität der Frau kommt auf: Wer ist sie
und ist sie auch ansonsten nackt? Was passiert als nächstes? Werde ich
entdeckt und was dann?
Die Ordnung von Raum und Zeit ist bereits auf den Kopf gestellt und die
Realität wird immer unfassbarer. Eine absurde, dunkle Macht scheint bereits
die Führung übernommen zu haben und sorgt immer mehr für Verwirrung. Wir
erblicken die Reste eines Apfels (Foto Nr. 7), das Symbol für die verbotene
Frucht aus dem göttlichen Paradies. Die Sünde wurde bereits begangen, denn
der Apfel ist aufgegessen.
Die Strafe folgt nicht zugleich. Zunächst wähnt sich der Betrachter wieder
auf der sicheren Seite: Man sieht die Spiegelung eines Hauses (Foto Nr. 8)
und es kommt das Gefühl auf, dass man sich wieder auf der richtigen Seite
des Spiegels befindet und man das geisterhafte Haus verlassen hat. Die Bäume
vor dem Haus sind kahl wie im Winter. Es scheint viel Zeit vergangen zu
sein, seit dem Eintritt in die Welt von „Alice”.
Doch schon auf dem nächsten Foto (Nr. 9) wird klar, dass man sich noch
inmitten der absurden und dunklen Märchenwelt befindet. Formal fotografierte
Susanne Neiß hier die Spiegelung eines Fensters in der Glasscheibe eines
gerahmten Bildes. Neben dem Fenster, das hier blau leuchtet, ist ein
dämonenhaftes, teuflischrotes Gesicht zu erkennen, dessen schwarzes Auge vom
oberen rechten Bildrand aus den Betrachter anstarrt. Die Situation wirkt
unheimlich und bedrohlich und es ist unklar, ob auf dem Foto eine
wahrhaftige Wirklichkeit eingefangen wurde oder ob sich diesmal tatsächlich
ein Geist oder Dämon auf dem Foto materialisiert hat.
Am Ende erscheint ein Tunnel (Foto Nr. 10) mit zwar hellem aber doch
ungewissem Ausgang. Was erwartet uns, wenn wir den Tunnel durchschreiten?
Stoßen wir wieder ins bekannte Außen vor, in dem wir uns endlich wieder
sicher wähnen können? Oder begreifen wir schmerzlich, dass die Idylle, die
uns da draußen erwartet immer eine trügerische bleiben wird?
