Fotografien

von Carolin Ellwanger

Das Licht in all seinen Schattierungen lässt unsere Welt jeden Tag anders erscheinen; der sich stets wandelnde Charakter der Farben entwickelt eine eigene Realität der kurzweiligen Besonderheiten, die nur derjenige wahrnehmen kann, der sich auf vorgefundene Stimmungen und Verhältnisse einlässt, sie erkennt und ihre Flüchtigkeit festhält. Susanne Neiss nimmt die Phänomene unserer lichtempfindlichen Welt auf. Sie erfasst in ihren großformatigen Fotografien im Verschwinden begriffene Momente, flüchtige Stimmungen also, die sich aus der jeweiligen Lichtatmosphäre ergeben und von unbewussten Bildräumen unserer Umgebung abhängig sind. Susanne Neiss poetische Bildsprache kreist um das Thema der „Wahrnehmung”: um das Sichtbarmachen kurzweilig existierender Veränderungen, um den konzentrierten Blick auf das Detail.

Die Arbeiten aus „Fotografien” zeigen größtenteils keine als solche direkt wahrnehmbaren Orte oder Dinge, sondern vielmehr Lichtmomente. Es sind Stimmungen, die durch die Kraft der Farben und Reflektionen hervorgerufen werden. Der Betrachter nimmt zunächst die intensiv warmleuchtende Farbigkeit der Fotografien wahr. Die Betonung liegt hierin auf der Sinnlichkeit der Farbverläufe, auf der Leuchtkraft unterschiedlicher Materialien, die sich erst entwickelt, wenn Licht auf sie fällt. Eine Leuchtkraft aus der Reflexion, also dem Biegen und Krümmen des Lichts, dem sich intensivierenden Zusammenspiel von Material und Lumineszenz.

So erscheint ein in sich strukturierter Glaseinsatz einer gewöhnlichen Wohnungstüre völlig unscheinbar, entwickelt aber bei durchfallendem Licht eine Atmosphäre und Plastizität, die nur der gegenwärtigen Lichtsituation eigen ist.

Verfremdungen, aus dem Umfeld gelöste Details, Unschärfen oder Überbelichtungen als fotografisches Gestaltungsmittel begrenzen den optischen Eingriff in die Bildrealität der Arbeiten der Künstlerin. Sie verwendet weder Lichtfilter noch sind ihre Werke in irgendeiner Form nachträglich bearbeitet. Die Fokussierung des Blicks, die gesuchten Schwellen der Sichtbarkeit, sind charakteristisch für die Künstlerin, die unsere Wahrnehmung herausfordert und unsere Sinne schärft. So beobachten wir uns dabei, wie wir nachzuvollziehen versuchen, wie diese Aufnahmen entstanden sind und was sie denn eigentlich genau zeigen. So zeigt z.B. die vierteilige Arbeit (Nr.13) einen Platz, der sich in warmer Farbigkeit schemenhaft darstellt. Wir blicken auf ein Holzhaus mit Wellblechdach und geschlossenem Fenster, sehen eine Agave, die ihre Ranken in die Höhe reckt. Die Bilder dieser Serie erscheinen, als wären sie durch opakes Glas aufgenommen und sind mit Schlieren überzogen. Sie erinnern an Filme aus frühen Sommerurlauben, die mit einer Super8-Kamera gedreht worden sind. Erzeugt wird diese Atmosphäre durch einen Vorhang, der sich zwischen der Linse und dem Motiv befindet und den Innenraum (in dem sich die Fotografin aufhält) zum Vorplatz hin verdeckt. Auch bei anderen Aufnahmen (z.B. Arbeit Nr. 5) rätselt man, von welchem Standpunkt aus sie entstanden sein mag. Ob sich der Blick nun in den Innenraum oder entgegengesetzt durch die Glasscheiben auf die gegenüberliegende Hauswand richtet.

Der Betrachter versucht sich zu orientieren, erkennt Menschen, die in der Sonne sitzen, einen zusammengeklappten Sonnenschirm; all dies ist eingeschrieben in eine Architekturfassade. Die Ausgangsituation ist zwar präsent bleibt aber unklar, erscheint verzerrt wie ein Traumfragment. Durch ein Verwischen der Räumlichkeiten, der Außen- und Innenbereiche wird diese surreale Bildwelt erschaffen, durch ein Übereinanderlegen unterschiedlicher Ebenen, die wie die faszinierenden Schichtungen eines mehrfach belichteten Filmes anmuten.

In „Fotografien” werden poetisch aufgeladene „Unorte” ­ in einem Wechselspiel von Bild und Gedankenbild gezeigt. Susanne Neiss nutzt die Fotografie um die Ebenen der Wahrnehmung leicht zu verschieben -in eine extreme Nahsicht oder Spiegelung - und erreicht dadurch eine Erweiterung unserer visuellen Aufmerksamkeit. Spiegelungen evozieren optische Illusion und ermöglichen eine Vervielfachung des Lichtes. Susanne Neiss nutzt diesen Lichtspielraum, um atmosphärisch durchdrungene Bilder einzufangen.

Hier das reflektierende Licht auf einer Motorhaube (Arbeiten Nr.3). Diese metallisch glänzende Oberfläche öffnet kurzeitig Bildbereiche, die ohne Licht gar nicht existent sind, das eigentliche Motiv ­ die Motorhaube- tritt dabei zugunsten eines ihm eingeschriebenen, tieferen Bildraumes ­der Spiegelung- zurück, bringt aus sich selbst ein reflexives Bild hervor, das immer auf sich rückverweist, aus sich selbst heraus entsteht. So auch die Deckenspiegelungen auf der Wasseroberfläche eines Schwimmbadbeckens. Sie erscheinen uns als reich ornamentierter, schwimmender Teppich. Erst auf den zweiten Blick erkennen wir die sanften Wellenbewegungen, unser Auge kann sich langsam die Aufnahmesituation vergegenwärtigen.

Ganz in die Abstraktion übergehende Lichtstudien, sehen wir in den Langzeitbelichtungen (Arbeiten Nr. 9). Nach der etymologischen Bedeutung des Wortes Fotografie definiert sich diese ja als „Licht schreiben” oder „Licht malen”. In diesen Arbeiten ist gewissermaßen der Akt des Fotografierens selbst dargestellt, denn hierin repräsentiert sich der prozessuale Vorgang der abläuft, wenn eine Fotografie entsteht. Es zeigt sich die dem Foto-Bild eingeschriebene Darstellung des eigenen Entstehungsprozesses: Das Aufzeichnen des Lichtes.

Susanne Neiss Fotografie bewegt sich an einer Schnittstelle fotografischer Darstellungsweisen: weg von der reproduktiven Funktion der Fotografie des reinen „Abbildens” hin zur Freisetzung von Reflektionen (der subjektiven Fotografie). Ihre Bilder sind eine wahre „Schule des Sehens”, sie hält Lichtphänomene fest, durchbricht dabei unsere Wahrnehmungsmechanismen, die stets das Gegenständliche, das Wiedererkennbare suchen und zeigt changierende Launen des sichtbaren Lichtes, das ephemere Erscheinungsformen hervorzubringen in der Lage ist und reflektiert dabei das Sehen an sich.